
Hilft ja alles nix. Wenn ich schon mithilfe meines Schreibheilverfahrens mein Dasein als Wrack beschreiben möchte, um irgendwie einen Lösungsansatz, von Innen oder von Außen, zu finden, dann sollte ich die gut zwanzig Jahre „Schmerzpatient“ nicht in der Schublade lassen. Auch wenn ich eigentlich Null Bock dazu habe, dieses Thema ans afrikanische Tageslicht zu bringen. Schließlich kann ich mir momentan recht zügig die Socken anziehen und sogar ein paar Stunden auf einem Stuhl sitzen. Also, alles halb so schlimm.
Da jetzt nach zwei Wochen Kanarenluft nahezu jede Atemnot und Entzündung und Schwellung und Schleimerei vorüber ist, zeigt er sich halt wieder, ploppt an die Oberfläche, er, den ich nahezu jeden Tag so nebenbei verdrängen konnte: Der Schmerz. Ein kleines Zucken in der Muskulatur, erst einmal nur morgens. Ein bisschen Reiben und Kneten und Bewegen, das wird schon wieder.
2010 war ich ein ganzes Jahr ausgeknockt. Davon mehrere Monate nahezu gelähmt. Siebzehn Minuten bis zur Toilette und dann die Zigarette vergessen – wie ich diesen Zeitraum stets gerne beschreibe. Alles gut. Eigentlich genial, wie unser Hirn Prioritäten setzen, Wahrnehmungen, Vorgänge zur Seite schieben, dämpfen, verdrängen kann. So ist das halt mit uns „Chronikern“.
Anfang Dreißig und der Herr Professor schaut sich mit hochgeschobener hellgrüner Brille die Aufnahmen an, brummelt etwas in seinen weißen Bart und schaut mich dann mit seinen freundlichen blauen Augen an: „Haja, wenn der Lack halt mal ab ist!“
Dann bekam ich etwas von Prelapsen, Vorwölbungen, Scheuermann'sche Krankheitsbild und zu geringen Abständen der Wirbel, von Muskelaufbau und „leichtem Bandscheibenvorfall“ , von möglichen Operationen und Muskeltonus gesagt und hängenblieb doch nur ein Satz: „Sie haben eben den Rücken eines Achzigjährigen. Und die Einen haben halt Probleme, die Anderen nicht“. Wie immer wollte ich nicht zu den Anderen gehören.
Wie soll ich die anschließenden Jahre beschreiben, die damit endeten, dass ich eines schönen Morgens erwachte und in den Kaffeebecher neben dem Bette pinkeln musste, weil ich da Unten schlicht nichts mehr fühlte und meine Beine und Füße mir nicht mehr gehorchten. Ich zitterte am ganzen Körper, wie ich mich mit Armes Kraft aufzurichten versuchte, aber weder Oberschenkel noch Wadenmuskulatur signalisierten – ok, wir übernehmen ab jetzt!
Nach der anfänglichen Diagnose, ab in die Physio, ab zum Rückentraining – ein starker Rücken kennt keinen Schmerz! Und ich bekam viel Lob, ob meiner Muskulatur. So hatte doch mein sportlicher Ehrgeiz in den ersten 14 Lebensjahren wenigsten zu etwas geführt... und ich trainierte in den Krafträumen und mein Kreuz wurde zunehmend breiter, die Muskeln größer, fester, stabiler. Dennoch häuften sich die kleineren und größeren „Hexenschüsse“ von Jahr zu Jahr. So konnte es durchaus passieren, dass ich beim Vorübergehen an einem Tischchen die Kaffeetasse mitnehmen wollte -peng. Dass ich eine kleine Stufe nahm – peng. Bis zu jenem Moment, dass ich beim Schlafen seltsam erwachte und bemerken musste, wie sich meine untere Rückenmuskulatur verkrampfte und eine Bandscheibe nach der anderen bis zur Brusthöhe gequetscht wurden – peng – peng peng ….
Als mir Reinhardt, mein spezialisierter Arzt danach versuchte seine Spritzen reinzujagen, kam auch der Rat, dass Muskulatur nicht alles sei, die notwendige Flexibilität bei der ganzen Kraftmeierei wohl doch zu kurz gekommen war. Ich heulte vor Schmerz wie ein Schlosshund, hörte jedoch zu und konnte nach wenigen Tagen wieder gehen und begann mit Tai Chi. Durch eine glückliche Fügung hatte ich auch ein Meisterlein ganz für mich allein und wir übten frühmorgens auf einem Kinderspielplatz, während die verdutzten Frühaufsteher an uns wie an einem bunten Schaufensterglas vorübergingen. Staunend und kopfschüttelnd. Zunächst war ich begeistert, wie sehr ich mich auf die gezeigten Bewegungsabläufe einlassen konnte.
Dazu muss man wissen, dass ich bis dahin noch jeden oder jede Physio mit meinem Kasperlestheater zum Lachen, oder zumindest zum Schmunzeln gebracht hatte. Ich konnte vielleicht die 100 m in atemberaubender Geschwindigkeit rennen, freihändig Fahrrad fahren und nebenbei Faust zitieren, aber drei Bewegungsabläufe von Hand zu Knie oder so, vor einem Spiegel und ich verwurschtelte mich schon nach dem zweiten Schritt. Irgendwo zwischen Hirn und Fuß war und ist da eine unsichtbare Schranke. Wie beim Tanzen.
Die armen Frauen in all den Jahrzehnten, die es vergebens versucht hatten mit mir zu tanzen, bzw. mir wenigstens die Grundschritte beizubringen– Chaos und Gelächter. Ich konnte mit meinen Füßen jeden Ball ins gewünschte Ziel schießen, aber bei einmal rechts, zweimal links stolperte ich schon über meine Füße und fiel schlicht stocksteif wie ein Baum um.
Daher auch meine Begeisterung, recht anspruchsvolle Bewegungsabläufe, samt dazu gehöriger Atemtechnik in kürzerster Zeit erlernen zu können. Bis zum zweiten Bandscheibenvorfall im unteren Brustwirbelbereich. Haja, die Drehbewegungen waren dann wohl doch zu viel für meine 7,8,9 Vorwölbungen und wieder Spritzen, Tabletten und Wochen des Aufbaus, bis ich mich wieder einigermaßen bewegen konnte.
In dieser Zeit sah ich auf Arte eine Doku über unsere Volkskrankheit „Rücken“, bei der MRT Aufnahmen von zwei Menschen verglichen wurden. Aufnahmen, die meinem Ungemach sehr nahe kamen. Eine Frau hüpfte beim Einkaufen plappernd durch eine Einkaufsmeile, während die andere Person mit den ähnlichen physiologischen Merkmalen im Rollstuhl saß und vor sich hinsabberte.
Wie gesagt, ich hatte ja nur Bio-LK, mir wurde zwar in der 7ten Klasse eine Begabung für die Naturwissenschaften mit neuester sozialwissenschaftlicher Methodik (grins) nachgewiesen und ich musste fortan bis zum Abi mikroskopieren und im Labor bis zum Schwindeligfühlen „gar Seltsames“ köcheln, aber dennoch studierte ich später in erster Linie die Palette an Geisteswissenschaften durch.
Doch an diesem Punkt kann die „ratio“ ja gar nicht anders als lauthals aufzuschreien: „Was soll denn der ganze Blödsinn?“
Inzwischen war eine REHA genehmigt und an dieser Stelle muss ich mich nochmals bei Reinhardt, meinem damaligen Arzt zumindest innerlich bedanken. Auch wenn er mich nicht zum Kiffen bewegen konnte, er ab und an eine ganz individuelle Art von Humor offenbarte (seine Schmerzeinheit war zumeist in Rotweinflaschen bemessen), er hielt mir in diesen wirklich natürlich auch psychisch schweren Zeiten schlichtweg „den Rücken frei“.
Denn wer mal in die Fänge der Orthopäden, deutsch getaktet im Minutentakt, der Kranken und Rentenversicherungen und der anschließenden REHA-Klinikpfuscher gerät, ist unter Umständen, ohne das nötige soziale Umfeld verraten und verkauft.
Der Bruder meines Berliner Freundes war hierfür das beste Beispiel. Während ich mich nach wie vor auf die „konservative Art“ behandeln ließ, hatte er in diesem Zeitraum schon die ersten Op's und REHAs hinter sich gebracht und durfte sich fortan mit dem Thema „Narbenschmerzen“ auseinandersetzen. Wir Beide hatten bis dahin fast alles gleich umgesetzt: Kein Sitzen, Stehtische, Training und Entspannungsübungen, Wasserhaushalt und basische Ernährungsumstellung. Ich musste jedoch aufgrund der „Krankheit“ meinen Job als Schuhprinz kündigen und irgendwie von „neu“ beginnen, während er als gutbezahlter IT-Mensch weitermachte und ab einem gewissen Punkt des Vertrauens in das Gesundheitssystems zum „Schmerzpatienten“ wurde.
Viel Spaß dabei. Mit einem Federstrich sind somit die Orthopäden fein raus aus der Verantwortung und du gehörst nun zu den Psychos, die man im Anschluss mit allerlei Psychopharmaka vollpumpen konnte. Ein Herzinfarkt beendete seine Rückenkarriere. Finito de la musica. Gut, man kann immer mal einen Herzfehler übersehen, wenn man mit „gar Seltsames, das geköchelt wurde“ experimentiert. Aber sein schallendes Lachen bis einem die Tränen kommen wird mir für immer fehlen.
Wie habe ich es lösen können, dass ich inzwischen nur noch zwei Mal die Woche Ärger habe, mir die Socken anzuziehen, bzw. es zumeist auch bewältige, nach kleineren Dehnungsübungen mir die Zehennägel zu schneiden? Stichwort: Was die Welt schon immer wissen wollte...
Wie meine Grundvoraussetzung bei meinen Allergien, dass ich schon als Säugling dem Leben gegenüber feindlich reagierte, wie bei meiner großen großen Liebe, die mich nie nie liebte, mein Liebeshaken, an dem ich mich Jahrzehnte lang aufknüpfte: In derselben Art und Weise löste ich auch mein Rückenproblem:
Und zwar gar nicht. Ich scheiterte daran. Hatte keine Lösung und verdrängte und ging weiter, das Beste daraus zu machen.
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